Editorial aus Schiff&Hafen 4/2022: Zeitenwende
Der 24. Februar bildet eine Zäsur für Europa und die westliche Welt, oder – wie Bundeskanzler Olaf Scholz es ausgedrückt hat – er steht für eine „Zeitenwende“. Dabei lässt sich noch nicht absehen, welche Auswirkungen der völkerrechtswidrige Einmarsch der Truppen des russischen Präsidenten in den souveränen Nachbarstaat Ukraine für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft mit sich bringen wird.
Über den ökonomischen und geopolitischen Konsequenzen steht ohne Zweifel die humanitäre Katastrophe. Die Folgen der Zerstörung ganzer Städte und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme sind für die Betroffenen verheerend; Menschen verlieren ihr Zuhause, ihr Hab und Gut, ihr Leben.
Die weitreichenden (wirtschaftlichen) Sanktionen, die gegen Russland verhängt worden sind, führen zu gravierenden Einschnitten für das autokratische Regime; die Auswirkungen sind jedoch weltweit spürbar. Energiepreise explodieren; zahlreiche Konsumgüter werden knapp bzw. teurer.
Der Druck auf die ohnehin angespannten Lieferketten erhöht sich durch den Krieg, der auch die Verkehre im strategisch wichtigen Schwarzen Meer und dem Asowschen Meer massiv beeinträchtigt, noch einmal weiter. Der Ausfall (fast) sämtlicher Handelsbeziehungen, wie u.a. auch das von der EU verkündete Exportverbot von Schiffstechnik oder der Stopp der Ostseepipeline Nord Stream 2, wird zu immensen Verwerfungen führen.
Insbesondere vor diesem Hintergrund ist die energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands noch einmal verstärkt in den Fokus gerückt. In den vergangenen Jahren hat der Bund es versäumt, eine unabhängige und umfassende Infrastruktur für die Versorgungssicherheit der Bürger zu schaffen – für fossile, aber auch für zukünftige klimaneutrale Energieträger.
Die aktuellen Verhandlungen über die Lieferung von Gas mit Staaten, die die Unveräußerlichkeit von Menschenrechten mitunter ebenfalls in Frage stellen, sind in diesem Zusammenhang wenig zufriedenstellend. Die derzeitige Situation lässt jedoch kaum Spielraum.
Eine Zeitenwende kann aber auch ein Aufbruchsignal sein. Dann bleiben die Verträge mit Katar oder Saudi-Arabien hoffentlich nur eine Übergangslösung. Wenn der Ausbau der regenerativen Energien in Deutschland wieder verstärkt vorangetrieben und die Gasversorgung durch alternative Importmöglichkeiten zeitnah diversifiziert werden kann, können neben der dringend benötigten Energieautonomie Aufträge und Arbeitsplätze für die maritime und Offshore-Industrie geschaffen werden.